Der Weg zur EU-Mitgliedschaft
Allgemein wird durch den EU-Vertrag (Vertrag von Maastricht) jedem europäischen Land das Recht eingeräumt der Europäischen Union beitreten zu können, insofern das Land einen Beitrittsantrag stellt, dieser positiv beschieden wird und das Land den Kandidatenstatus erhält. Der Prozess des EU-Beitritts verläuft grob in drei Phasen: Anerkennung des offiziellen Kandidatenstatus; Eintritt in die formellen Beitrittsverhandlungen; Abschluss der Beitrittsverhandlungen und Ausfertigung des Beitrittsvertrages. Der Beitrittsvertrag wird durch die Europäische Kommission und dem Beitrittskandidat entworfen und muss vom EU-Rat sowie dem Europäischen Parlament positiv beschieden werden. Im Anschluss muss der Vertrag von jedem EU-Mitgliedstaat unterzeichnet und ratifiziert werden. Es gilt das Einstimmigkeitsprinzip - nur wenn alle Mitgliedstaaten dem Vertrag zustimmen, wird der Beitrittskandidat in die Europäische Union aufgenommen.Konkret werden derzeit sieben Staaten als EU-Beitrittskandidaten gezählt: Albanien, Nordmazedonien, Montenegro, Serbien und die Türkei sind offizielle Beitrittskandidaten. Sie haben einen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt, der jeweils durch die europäischen Institutionen positiv beschieden wurde und im Anschluss den offiziellen Status als Beitrittskandidat verliehen bekommen. Neben Montenegro, Serbien und der Türkei befinden sich seit März 2020 auch Nordmazedonien und Albanien in laufenden Beitrittsverhandlungen.
Bosnien und Herzegowina und der Kosovo sind bisher nur "potenzielle Beitrittskandidaten" und befinden sich noch einige Schritte hinter Albanien und Nordmazedonien im Gesamtprozess Richtung EU-Mitgliedschaft. Bosnien und Herzegowina hat einen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt, der jedoch noch nicht positiv beschieden wurde. Der Kosovo hat noch den längsten Weg zur EU-Mitgliedschaft vor sich, da er bisher von diversen Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) nicht als unabhängiger Staat anerkannt wird.
Demographie - die Türkei hätte die größte Bevölkerung der EU
Die derzeitigen EU-Beitrittskandidaten werden geographisch Südosteuropa (die Türkei nur teilweise) zugeordnet. Mit einer Gesamtbevölkerung von rund 83,2 Millionen Einwohnern weist die Türkei im Jahr 2020 die größte Bevölkerung der EU-Beitrittskandidaten auf; Montenegro mit rund 620.000 Einwohnern die kleinste. Wären die Kandidatenländer bereits Mitglieder der Europäischen Union, würde die Türkei mit rund 15,2 Prozent neben Deutschland den höchsten Anteil an der Gesamtbevölkerung der Europäischen Union (EU) aufweisen. Aufgrund des Prinzips der degressiven Proportionalität würde die Türkei mit Deutschland zusammen die meisten Stimmen im EU-Parlament besitzen.Montenegro würde hingegen mit rund 0,1 Prozent, zusammen mit Luxemburg, den zweitgeringsten Anteil an der Gesamtbevölkerung aller EU-Staaten aufweisen. Während die Bevölkerungsentwicklung in der Türkei positiv ist und im Jahr 2020 mit rund 1,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr zunahm, hat sich die Gesamtbevölkerung Serbiens um rund 0,53 Prozent gegenüber dem Vorjahr verringert. Aufgrund der deutlich geringeren Bevölkerungsentwicklung Deutschlands, dürfte die Türkei bereits im kommenden Jahr eine größere Gesamtbevölkerung als Deutschland aufweisen und wäre daher auch der bevölkerungsreichste Staat der EU.
Sowohl die Türkei (1,88 Kinder je Frau) als auch Montenegro (1,77 Kinder je Frau) weisen vergleichsweise hohe Fertilitätsraten auf (2019), während die Fertilitätsrate von Bosnien und Herzegowina mit rund 1,25 Kindern je Frau eine der niedrigsten Fertilitätsraten weltweit ist. Die Kindersterblichkeit in den Kandidatenländern (2019), also die Wahrscheinlichkeit eines Kindes vor der Erreichung des 5. Lebensjahres zu sterben, liegt zwischen 1,0 Prozent in der Türkei und 0,23 Prozent in Montenegro (EU-Durchschnitt rund 0,4 Prozent). Die Altersstruktur der EU-Beitrittskandidaten stellt sich recht unterschiedlich dar: Der Kosovo hat eine junge Gesellschaft. Im Jahr 2020 waren rund 24 Prozent der Bevölkerung unter 14 Jahre alt (EU-Durchschnitt: 15,1 Prozent). In Bosnien und Herzegowina besitzen die unter 14-Jährigen dagegen nur einen Anteil von rund 14,52 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Das höchste Durchschnittsalter (Altersmedian) unter den EU-Beitrittskandidaten weist im Jahr 2020 die serbische Gesellschaft mit rund 43,9 Jahren auf (EU-Durchschnitt: 43,9 Jahre). Auf der anderen Seite beträgt der Altersmedian im Kosovo rund 30,4 Jahre - das Land würde derzeit die jüngste Gesellschaft unter den Mitgliedstaaten der Europäischen Union aufweisen.
Wirtschaftliche Entwicklung der Beitrittskandidaten
Die EU-Beitrittskandidaten erwirtschaften zusammen ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von rund 725 Milliarden Euro (2020). Die Türkei ist mit einem BIP von rund 626,7 Milliarden Euro die größte Volkswirtschaft der Erweiterungsländer, Montenegro mit einem BIP von rund 4,2 Milliarden Euro die kleinste. Einen Teil des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts generierten die Beitrittskandidaten in Form von Rücküberweisungen der im Ausland lebenden Staatsangehörigen. Der Kosovo erwirtschaftete rund 18,9 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts durch Rücküberweisungen (2020); nur für die türkische Volkswirtschaft ist die Bedeutung der Rücküberweisungen mit 0,11 Prozent des BIP, marginal. Die Türkei hat mit rund 7.495 Euro zwar das höchste Bruttoinlandsprodukt pro Kopf unter den Beitrittskandidaten (2020), wäre die Türkei aber bereits Mitglied der Europäischen Union, würde sie das geringste Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der EU-Mitgliedstaaten aufweisen. Allerdings verzeichnen die EU-Beitrittskandidaten allesamt stabile oder hohe Wachstumsraten. Die Corona-Pandemie hat aber auch den Balkan nicht verschont und daher ist erzielte Bosnien und Herzegowina mit -15 Prozent im Jahr 2020 den größten Einbruch in derWachstumsrate des BIP unter den Beitrittskandidaten; die Türkei hingegen bemisst mit 1,8 Prozent das höchste Wachstum.Hohe Jugendarbeitslosigkeit - niedriges Preisniveau
Die Arbeitslosenquoten in den Beitrittsländern sind hoch (Türkei: circa 13,2 Prozent in 2020) bis sehr hoch (Kosovo: 25,6 Prozent in 2020). Auch die Jugendarbeitslosigkeit ist ein gravierendes Problem: Im Kosovo betrug die Jugendarbeitslosenquote im Jahresdurchschnitt 2020 circa 49,7 Prozent. Dies entspricht einer wesentlich höheren Jugendarbeitslosenquote als in dem EU-Mitgliedstaat Griechenland, das die höchste Jugendarbeitslosenquote der Europäischen Union aufweist.Die Inflationsraten der EU-Beitrittskandidaten lagen 2021 zwischen 1,82 Prozent in Montenegro und rund 3,13 Prozent im Kosovo. Nur die Türkei weist eine sehr hohe Inflationsrate auf. Mit einer Teuerungsrate von rund 17 Prozent hat die Türkei eine der höchsten Inflationsraten weltweit.
Bleiben die Teuerungsraten auf diesem Niveau, ist nicht damit zu rechen, dass sich das Preisniveau für Verbrauchsgüter und Dienstleistungen schnell dem EU-Durchschnitt angleicht. Im Jahr 2020 lag der Preisniveauindex Montenegros bei rund 56,5 Prozent, d.h. die Verbraucherpreise waren dort etwa 43,5 Prozent niedriger als im EU-Durchschnitt. Dies entspricht in etwa dem Preisniveau des EU-Mitgliedstaates Polen.
Die Europäische Union ist der wichtigste Handelspartner
Unabhängig vom Beitrittsstatus sind alle Beitrittskandidaten der EU-Erweiterung bereits gegenwärtig wirtschaftlich eng mit der Europäischen Union verbunden. Der Großteil der Ausfuhrgüter aus den EU-Erweiterungsländern wird in die Europäische Union exportiert, wie auch der Großteil der Einfuhrgüter aus den Staaten der EU importiert wird. Für die Türkei, Montenegro und den Kosovo spielt der Extra-EU-Handel, also der Handel mit Staaten, die nicht der EU angehören, zwar teilweise eine wichtige oder größere Rolle, aber der Handel mit den EU-Staaten ist dennoch auch in diesen Ländern bedeutend. Dies lässt sich nicht zuletzt an den Handelsbilanzen der EU-Beitrittskandidaten ablesen. Die Türkei und Nordmazedonien erzielten im Jahr 2019 Handelsbilanzüberschüsse mit der EU. Die restlichen Beitrittskandidaten erzielten zwar Handelsdefizite mit der EU, allerdings war das Defizit mit den Nicht-EU-Staaten (Extra-EU-Handelspartnern) ,mit Ausnahme des Kosovo, jeweils höher.Gemäß der EU-Konvergenzkriterien (Maastricht-Kriterien) darf grundsätzlich die Staatsverschuldung die Grenze von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht überschritten werden. Aufgrund der massiven Wirtschaftshilfen im Zuge der Corona-Pandemie wird sich die Staatsverschuldung in den meisten EU-Erweiterungsländern (wie auch in allen anderen Staaten weltweit) in diesem Jahr rapide erhöhen. Die Europäische Kommission hat daher bereits zu Anfang der Pandemie reagiert und die Defizitkriterien ausgesetzt. Während die Staatsverschuldung der Beitrittskandidaten Serbien (circa 58,4 Prozent), Nordmazedonien (circa 51,3 Prozent), Bosnien und Herzegowina (circa 36,7 Prozent), der Türkei (circa 30,2 Prozent) und des Kosovo (circa 24,1 Prozent) diese Grenze größtenteils deutlich unterschreiten, liegt die Staatsverschuldung in Montenegro (107,2 Prozent) und Albanien (77,6 Prozent) im Jahr 2020 deutlich über dieser Vorgabe.
Ein weiteres EU-Konvergenzkriterium ist die Begrenzung des Haushaltssaldos auf maximal drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Bis auf die Bosnien und Herzegowina, deren Haushaltsdefizit in 2020 circa 4,1 Prozent des BIP betrug, lag das Haushaltssaldo der EU-Beitrittskandidaten unter dieser Zielvorgabe bzw. würde diese nur geringfügig verfehlen.
Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Gleichstellung
Die Europäische Union versteht sich nicht als reine Wirtschaftsgemeinschaft sondern unabdingbar auch als Wertegemeinschaft, dessen Mitglieder Werte und Ziele wie die Friedensicherung, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Gleichstellung sowie Meinungs- und Pressefreiheit (u.a.) achten und fördern sollen. Auch wenn derzeit nicht nur die Länder der Visegrád-Gruppe diese Werte missachten.Die Platzierung der Beitrittskandidaten nach dem Bertelsmann Transformationsindex (BTI) 2020 zeigt in dieser Hinsicht insgesamt eine durchwachsene Entwicklung in den Beitrittsstaaten auf. Während sich die Platzierungen von Albanien, Nordmazedonien und Montenegro leicht verbesserten oder stagnierten, hat sich die Qualität von Demokratie, Marktwirtschaft und politischem Management in Bosnien und Herzegowina, dem Kosovo, Serbien und insbesondere der Türkei verschlechtert.
Die Türkei belegte 2016 noch Platz 23 von insgesamt 129 Transformationsländern weltweit und verschlechterte sich im Ranking 2020 auf Platz 62. Alle Beitrittskandidaten sind zwar im Ranking der 10 europäischen Länder mit dem niedrigsten Entwicklungsstand von Demokratie und Marktwirtschaft vertreten, aber in Relation zum Ranking der 10 Länder mit dem niedrigsten Entwicklungsstand weltweit, befinden sich die Beitrittskandidaten insgesamt bereits auf einem hohen Entwicklungsniveau.
Die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit der EU-Beitrittskandidaten nach dem Fragile States Index 2021 zeichnet ein differenziertes Bild: Auch hier wird die Entwicklung der Türkei eher negativ bewertet. Von 2020 auf 2021 steigt das Risiko eines Staatszerfalls (failed state) bei allen Beitrittskandidaten tendenziell wieder.
Hinsichtlich der Entwicklung der Pressefreiheit bei den EU-Beitrittskandidaten zeigen sich im Verlauf der Jahre 2015 bis 2021 ebenfalls Veränderungen der jeweiligen Staaten - die Pressefreiheit ist bei allen Staaten schwach ausgeprägt, wenn auch im Vergleich untereinander gravierende (Bosnien und Herzegowina belegt Platz 58 von 180 Staaten weltweit; die Türkei Platz 153) Unterschiede bestehen.