Umfrage zum ersten und zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahl in der Türkei 2023
Rund 52,4 Prozent der Befragten würden derzeit Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan in der zweiten Wahlrunde der türkischen Präsidentschaftswahlen am 28. Mai 2023 ihre Stimme geben. Kemal Kılıçdaroğlu von der sozialdemokratischen Partei CHP würden derzeit rund 47,6 Prozent der befragten Bürger:innen im zweiten Wahlgang wählen.
Im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen am 14. Mai konnte keiner der Kandidaten eine eindeutige Mehrheit erreichen. Wenn dieses Ereignis eintritt, kommt es zwei Wochen nach dem ersten Wahlgang zu einer Stichwahl zwischen den beiden Kandidaten mit den höchsten Stimmanteilen im ersten Wahlgang. Im zweiten Wahlgang gilt Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan als Favorit, da unteranderem der drittplatzierte Sinan Ogan eine Empfehlung für diesen an seine Wähler:innen ausgesprochen hat
Kann Präsident Recep Tayyip Erdoğan besiegt werden?
Die Wiederwahl von Präsident Erdoğan gilt keineswegs als Selbstläufer. Trotz aller Proteste im In- und Ausland konnte die Regierung in den vergangenen Jahren den Rechtsstaat und demokratische Institutionen in der Türkei schleifen, ohne substanziell an Zustimmung bei der eigenen Wählerbasis zu verlieren.Von den Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit, der zunehmend parteiisch agierenden Justiz des Landes, den Verhaftungswellen um die Gezi-Proteste (u.a.) ist insbesondere die städtische Bevölkerung, die progressiven, kemalistischen und liberalen Bevölkerungsgruppen, die Wissenschaft und Universitäten betroffen - gesellschaftliche Gruppen, die nicht direkt zur Stammwählerschaft der AKP und Erdogan gehören.
Die AKP gibt den Konservativen, den Traditionalisten und der religiöseren Landbevölkerung eine machtvolle Stimme und die Repräsentanz dieser Gesellschaftsschichten stellt die Basis des politischen Erfolges von Erdogan dar.
Die Wirtschaft florierte und die Lebensumstände der Bürger:innen in der Türkei haben sich in der Regierungszeit der AKP deutlich verbessert.
It's the economy, stupid
Die AKP und Erdogan konnte trotz aller Verfehlungen, der augenscheinlichen Korruption, der Vetternwirtschaft und Aushöhlung des Rechtsstaates stets auf die Stammwählerschaft bauen, solange die Wachstumsraten hoch waren und sich die Lebensumstände verbesserten.
Die wirtschaftliche Lage vieler Türk:innen hat sich in den letzten Jahren aber deutlich verschlechtert:
- Die Inflationsrate in der Türkei erreichte im Oktober 2022 mit über 85 Prozent ihren höchsten Stand seit über 20 Jahren und auch Anfang des Jahres 2023 bleibt sie mit Raten über 50 Prozent sehr hoch.
- Die Währung verliert permanent an Wert und der Wechselkurs der türkischen Lira gegenüber dem Euro hat in drei Jahren um fast 400 Prozent zugelegt.
- Die Arbeitslosigkeit in der Türkei ist im europäischen Vergleich mit einer Arbeitslosenquote von über 10 Prozent sehr hoch.
Das Erdbeben in der Türkei - Katalysator für die Unzufriedenheit in der Bevölkerung?
Die verheerenden Erdbeben Anfang Februar mit über 45.000 Toten in der Türkei haben die Ausgangslage im Wahlkampf nochmals völlig verändert: Der türkischen Regierung und insbesondere Präsident Erdogan selbst werden in diesem Zusammenhang massive personelle Fehlentscheidungen und miserables Krisenmanagement vorgeworfen. Die Liste der Kritikpunkte ist lang: Erdogan hat die Katastrophenbehörde des Landes mit einem fachfremden Theologen besetzt, Warnungen türkischer Wissenschaftler:innen vor dem Erdbeben wurden von der Regierung ignoriert, die Erdbebensteuer, deren Erlöse eigentlich für Maßnahmen zur Erdbebensicherheit gedacht war, zweckentfremdet, hunderttausende illegale, nicht erdbebensichere Gebäude wurden nachträglich gegen eine "Gebühr" legalisiert, nicht-staatliche Ersthelfer:innen wurden mitten in Rettungseinsätzen durch staatliche Rettungstrupps verdrängt, um die staatlichen Rettungsbemühungen medial in ein besseres Licht rücken zu können.Auf Kritik im Inland reagierte die türkische Regierung wie so oft in der jüngeren Vergangenheit mit Repressionen gegen die Kritiker:innen. Journalist:innen und Wissenschaftler:innen , die kritisch berichteten wurden verhaftet, Twitter kurzzeitig vom Netz genommen und hunderte Strafverfahren gegen kritische Bürger:innen eröffnet. Dieses Vorgehen wurde bereits mit Einführung des neuen Gesetzes gegen Desinformation erwartet.
Gesetz gegen Desinformation verabschiedet - Meinungsfreiheit in der Türkei verschlechtert sich weiter
Das türkische Parlament hat am 13.10.2022 ein neues Gesetz gegen Desinformationen verabschiedet. Ähnlich wie bei dem erlassenen Sicherheitsgesetz in Hongkong, bewerten internationaler Beobachter:innen das neue Gesetz gegen Desinformation in der Türkei primär als neues Werkzeug türkischer Behörden vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen willkürlich gegen Oppositionelle und Journalis:innen vorgehen zu können. Der Gesetzestext ist dabei wage genug gehalten, um jede kritische Meinungsäußerung analog und digital sanktionieren zu können. Bei Verstößen drohen nun für die Verbreitung irreführender Nachrichten bis zu drei Jahre Haft. Hierzu zählen explizit das Teilen und Weiterleiten von Informationen oder Nachrichten auf sozialen Plattformen, die von der Regierung als Straftat eingestuft werden, bereits das "Liken" einer regierungskritischen Nachricht kann eine Gefängnisstrafe nach sich ziehen. Die Türkei ist bereits vor Verabschiedung des neuen Desinformationsgesetztes nach Weißrussland und Russland das Land mit der geringsten Pressefreiheit in Europa gewesen.Was hat die Europäische Union mit Erdogans Erfolg zu tun?
Zu guter Letzt wird Erdogan in vielen Bevölkerungsteilen der Türkei Respekt für den Umstand gezollt, dass das Land heute selbstbewusst in der internationalen Politik auftritt und ein gefragter Partner ist. Der jahrzehntelange, primär von einzelnen Mitgliedstaaten der EU verschleppte Prozess um die gescheiterten Beitrittsgespräche der Türkei zur Europäischen Union seit 1999 haben dem Selbstbewusstsein des Landes geschadet und es in den Augen der Bevölkerung zu Bittstellern vor Europas verschlossenen Toren degradiert. Der Beitrittsprozess der Türkei zur Europäischen Union wurde in einzelnen Mitgliedstaaten immer wieder für nationale Wahlkämpfe instrumentalisiert und der Türkei gleichzeitig signalisiert, dass sie in einzelnen Gebieten „noch nicht so weit wären“ um finale Beitrittsgespräche führen zu können. Anstatt dessen wurde der Türkei eine gesichtswahrende „privilegierte Partnerschaft“ angeboten, von der bis heute niemand weiß, worin denn die Privilegien bestanden hätten.Insbesondere in Deutschland und Österreich aber auch weiteren EU-Mitgliedstaaten gab es starke Vorbehalte gegenüber eines EU-Beitritts eines islamisch geprägten Landes wie der Türkei. Ob diese Vorbehalte, und nicht nur fehlende Fortschritte in einzelnen Punkten, ausschlaggebend für die Verschleppung des Beitrittsprozesses gewesen sein könnten, lässt sich nicht abschließend klären. Aber spätestens mit der zweiten EU-Osterweiterungsrunde 2007 erhärtete sich aus Sicht der Türkei dieser Verdacht.
Rumänien und Bulgarien wurden EU-Mitglieder, obwohl sie, wie bereits damals bekannt war, deutliche Defizite in einzelnen Beitrittskapiteln aufwiesen. Die Türkei war brüskiert und in diesen Jahren kippte die Stimmung in der türkischen Bevölkerung gegen eine EU-Mitgliedschaft. Erdogan hat diese nationale Verletzung aufgenommen und die Türkei selbstbewusst als eigenständige Regionalmacht positioniert, die augenscheinlich keine Konflikte scheut und die Europäische Union nicht braucht. Dieser Umstand hat immens zur Zustimmung für Erdogan in der Bevölkerung, selbst außerhalb seiner Stammklientel, beigetragen.
Die Statistik zeigt das aktuelle Meinungsbild der türkischen Wähler:innen zum zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahl in der Türkei am 28. Mai 2023.