Brexit
Großbritannien hat nach zähem Ringen mit sich selbst den Brexit zum 01. Februar 2020 vollzogen und die EU verlassen. Unter politischen und ökonomischen Beobachtern herrscht grundsätzlich Einigkeit darüber, dass der Austritt für beide Parteien nachteilig ist, wenngleich die Nachteile für Großbritannien grundsätzlich höher eingeschätzt werden. Dass sich das Land kurz nach dem Austritt aus der EU mit einer Pandemie konfrontiert sieht, war sicherlich nicht absehbar, hat aber die bestehenden strukturellen Probleme des Landes schonungslos offengelegt.Großbritannien verzeichnet noch vor Italien, Frankreich und Spanien die meisten Todesfälle in Zusammenhang mit dem Coronavirus in Europa. Hierfür ist nicht der Brexit ursächlich verantwortlich, sondern, neben einer konfusen Corona-Krisenreaktion der britischen Regierung um Premier Boris Johnson, die chronische Unterfinanzierung und der eklatante Personalmangel beim britischen Gesundheitsdienst NHS (National Health Service). Der NHS (und auch die Pflege als Teil der Sozialfürsorge) ist dringend auf Arbeitskräfte aus der EU angewiesen und 2020 waren in Großbritannien bereits rund 239.000 EU-Ausländer im Sektor Gesundheits- und Sozialarbeit beschäftigt. Allerdings ist die Beendigung der Personenfreizügigkeit und die Verringerung der Migration ein Hauptanliegen der Brexiteers, die bisher keine Lösung für diesen Widerspruch bieten.
Briten in der EU - EU-Bürger in UK
Der Ausländeranteil in Großbritannien betrug im Jahr 2019 rund 9,3 Prozent. Trotz der Kolonialgeschichte Großbritanniens und der Verflechtungen im Commonwealth of Nations ist der Anteil der EU-Ausländer mit rund 5,5 Prozent deutlich höher als der Anteil der Drittstaatangehörigen mit rund 3,7 Prozent. Acht der zehn häufigsten ausländischen Staatsangehörigkeiten in Großbritannien sind europäisch. Allein die polnische Gemeinde in Großbritannien zählt mit rund einer Million Personen mehr Menschen, als die in der Liste der 20 häufigsten Staatsangehörigkeiten zusammengenommene Anzahl von Nichteuropäern. Umgekehrt lebten im Jahr 2020 mehr als rund 862.000 Briten in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union. Spanien beherbergt mit rund 300.000 wohnhaften Briten, die größte britische Gemeinde in der EU, gefolgt von Frankreich (136.042 Personen) und Irland (117.426 Personen). Vergleicht man die Beschäftigungssituation der wohnhaften EU-Ausländer in Großbritannien mit der gesamten britischen Wohnbevölkerung sind EU-Bürger in UK häufiger angestellt, häufiger selbstständig und weniger häufig passiv hinsichtlich der Arbeitsplatzsuche. Dabei arbeiten EU-Ausländer in Großbritannien in allen Wirtschaftssektoren.Die von vielen internationalen Beobachtern als "planlos" empfundene Verhandlungsführung der britischen Regierung einschließlich mehrfacher Brüche von Zusagen, führt nicht nur zu wachsender Frustration bei den europäischen Partnern, sie verunsichert auch die EU-Ausländer in Großbritannien, wie auch umgekehrt die Briten in der Europäischen Union. In der Folge versuchen sich Briten vermehrt einbürgern zu lassen, um drohenden Nachteilen in Folge eines ungeregelten Brexits zu entgehen. Die Anzahl der Einbürgerungen von Briten in Deutschland ist den Jahren 2016 bis 2020 sehr sprunghaft gewesen. Im Jahr 2020 haben sich rund 4.930 Briten in Deutschland einbürgern lassen, 2015 waren es 622 Einbürgerungen und 2019 wurden 14.600 Einbürgerungen gezählt.
Auch hinsichtlich der erhofften wirtschaftlichen Freiheiten nach einem Austritt, haben sich die britischen Hoffnungen bisher nicht erfüllt: Die EU brach in den Brexitverhandlungen nicht auseinander und der Wunsch der Brexiteers nach einem maßgeschneiderten Freihandelsabkommen (#cherrypicking) für Großbritannien blieb unerfüllt. Im Gegenteil ließen sich die EU-Staaten in den Verhandlungen um den Austritt Großbritanniens und der zu vereinbarenden zukünftigen Zusammenarbeit nicht auseinanderdividieren und agierten mit geeinter Stimme. Der US-Präsident Trump gratulierte den Briten zum Austritt aus der EU, zu der Wahl Boris Johnson zum britischen Premierminister und versprach Großbritannien einen "fantastischen und umfassenden Deal", ein "phänomenales Handelsabkommen“.
Doch US-Präsident Donald Trump, der unter seinem Motto "Make America Great Again" die Welt mit einem Handelskrieg überzog, handelte primär nach seiner Maxime "America First". Auf Seiten Großbritanniens kehrte daher auch Ernüchterung ein, nachdem die USA den Briten in ersten konkreteren Gesprächen um ein neues bilaterales Freihandelsabkommen frühzeitig deren schwache Verhandlungsposition verdeutlichten.
Die Gesamtbevölkerung von Großbritannien betrug 2021 geschätzt rund 67,3 Millionen Einwohner. Die größten Städte in Großbritannien sind London, Birmingham und Glasgow. Die Lebenserwartung in Großbritannien zählt mit rund 81,2 Jahren (2019) zu den höchsten weltweit. Die Fertilitätsrate in Großbritannien ist mit 1,68 Kindern je Frau (2018) im europäischen Vergleich recht hoch. Gleichzeitig weist Großbritannien seit Jahren einen positiven Migrationssaldo auf, der maßgeblich zum Bevölkerungswachstum beiträgt. Im Jahr 2019 betrug der Migrationssaldo in Großbritannien 312.521 Personen.
Mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von geschätzt rund 3,1 Billionen US-Dollar (2021) ist Großbritannien die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt und war diezweitgrößte Volkswirtschaft der EU.
Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf lag 2021 bei rund 46.200 US-Dollar - Platz fünf innerhalb der G20 (Stand 2020). Abgesehen von den Krisenjahren 2008 und 2009 erzielte Großbritannien stabile jährliche Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Mit der Corona-Pandemie und dem Brexit sollte sich das ändern. 2020 sank die britische Wirtschaft um 9,85 Prozent. Die Werte für 2021 und 2022 zeigen wieder eine Steigerung bzw. Stabilisierung. Dies unterstreichen auch die aktuellen Prognosen führender Organisationen und Wirtschaftsinstitute zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP), sowie die aktuellen Quartalszahlen des Wachstums des realen Bruttoinlandsprodukts (4. Quartal 2021).
Die Arbeitslosenquote in Großbritannien ist in den Jahren nach dem Höchststand im Jahr 2011 merklich gesunken; sie lag 2011 bei rund 8,1 Prozent. Im Jahr 2021 betrug sie geschätzt noch rund 4,98 Prozent und war damit niedriger als in der Zeit vor der Wirtschaftskrise. Die Inflationsrate in Großbritannien betrug 2021 schätzungsweise rund 2,2 Prozent; 2022 sollen die Preise voraussichtlich um rund 2,62 Prozent steigen.
Im Jahr 2020 exportierte Großbritannien Waren im Wert von rund 403,32 Milliarden US-Dollar und importierte Güter für rund 634,71 Milliarden US-Dollar. Damit steht Großbritannien auf Rang zwölf der größten Exportländer und auf Rang vier der wichtigsten Importnationen.
Die Bedeutung des innereuropäischen Handels (EU-Intrahandel) für Großbritannien ist hoch: Großbritannien exportierte 2020 Güter im Wert von rund 167,24 Milliarden Euro innerhalb der europäischen Union und importierte umgekehrt Güter im Wert von rund 277,73 Milliarden Euro aus der Europäischen Union. Das britische Defizit in der Handelsbilanz von rund 231,4 Milliarden US-Dollar ist das zweitgrößte weltweit. Wichtigste Handelspartner im Export sind die USA, Deutschland und China. Im Import sind es Deutschland, China und die USA .
Die Staatsverschuldung in Großbritannien ist vor allem nach 2007 stark gestiegen und lag 2021 bei geschätzt rund 2,43 Billionen Pfund. Umgerechnet auf die Wirtschaftsleistung ergibt sich eine Schuldenquote von geschätzt rund 108,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts - Großbritannien zählt damit nicht zu den Ländern mit der höchsten Staatsverschuldung. Die Defizitquote betrug schätzungsweise circa 11,89 Prozent des BIP im Jahr 2021. Das Staatsdefizit in absoluten Zahlen betrug 2021 geschätzt rund 265,9 Milliarden Pfund.
Ohne Zweifel hat auch die nun auf 27 Staaten verkleinerte EU-27 durch den Austritt Großbritanniens eines ihrer wirtschaftlich, militärisch und diplomatisch mächtigsten Mitglieder verloren. Dieser Machtverlust kann auch durch die zukünftigen Beitrittskandidaten einer EU-Erweiterung nicht kompensiert werden.
Mit dem Verlust Großbritanniens fehlt nun auch ein gewichtiger Antreiber für die Gleichstellung von Frauen und Männern in der EU und die reaktionären Kräfte innerhalb der EU um die Visegrád-Gruppe haben an Macht gewonnen.